21.01.2025
EMAF 38 - Das Thema: Witnessing Witnessing
Das EMAF gibt mit seinem Programm nicht nur einen jährlichen Überblick über das medienkünstlerische Schaffen der Gegenwart, sondern greift auch Entwicklungen und Diskurse auf, die unser gesellschaftliches Zusammenleben prägen – seien sie künstlerischer, technologischer oder politischer Art. Diese Auseinandersetzung findet insbesondere im Rahmen des Festivalthemas statt, dessen Ausarbeitung in den Händen eines jährlich wechselnden kuratorischen Teams liegt. Mit dem kommenden Themenschwerpunkt Witnessing Witnessing (Das Bezeugen bezeugen) möchten wir uns der Frage widmen, welche Rolle Zeug*innen gegenwärtig zukommt, wie Zeugnisse – Aussagen, Dokumente, einzelne Dinge oder ganze Archive – unseren Blick auf die Welt prägen und wie sie in politische Wirklichkeit hineinwirken können.
Was wir bezeugen oder als Zeugnis hinterlassen, ermöglicht anderen, sich ein Bild von der Welt zu machen, das über die Grenzen ihrer eigenen Erfahrung hinausreicht. Zeug*innenschaft stiftet dadurch Verbindungen zwischen individuellen und kollektiven, vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungsräumen. Zeugnissen kommt auch deshalb eine wichtige Bedeutung zu, weil sie bisher ungehörte Stimmen ins Spiel bringen können. Sie können unhinterfragt überliefertes Wissen, aber auch unbewusste gesellschaftliche Verdrängungsprozesse in Frage stellen und damit nachhaltig verändern, was sag-, wahrnehm- und vorstellbar ist. Was passiert aber, wenn diese Prozesse unterbrochen werden? Wenn Zeugnisse ignoriert, aktiv geleugnet oder gegen die Bezeugenden selbst in Stellung gebracht werden? Und wie ist eine Vermittlung zwischen unterschiedlichen oder sich widersprechenden Aussagen über die Wirklichkeit möglich?
Die von Inga Seidler kuratierte Ausstellung versteht Zeug*innenschaft als aktive und auch performative Praxis, die weit über die bloße Dokumentation von Ereignissen hinausgeht. Künstler*innen setzen digitale Medien, Video, Film und interaktive Installationen ein, um Zeug*innenschaft als moralischen, politischen und emotionalen Akt zu untersuchen. Sie hinterfragen die Authentizität und Wahrheit von Medienproduktion, indem sie die Verantwortung und die Machtverhältnisse beleuchten, die mit der Darstellung von Ereignissen, Geschichte, Trauma und Gewalt verbunden sind. Die Besucher*innen sind dazu eingeladen, selbst zu untersuchen, Verbindungen herzustellen und sich kritisch mit den präsentierten Informationen auseinanderzusetzen, um so Teil des prozessualen Aktes der Zeug*innenschaft zu werden.
Was können Kunst und Film tun oder sagen, in Zeiten, in denen ein live gestreamter Genozid begangen wird, dessen Verantwortliche ungestraft davonkommen? Das von Laura Huertas Millán kuratierte Filmprogramm untersucht eine Reihe unterschiedlicher künstlerischer Praktiken, die um Erinnerung, die Körperlichkeit von Widerstand und Performance als somatisches Archiv für die Überlieferung von Geschichte kreisen. Der Titel der Reihe, We sing to wing again, inspiriert von einem Vers der Dichterin Hoa Nguyen, verweist auf die nicht enden wollenden Zyklen kolonialer Gewalt, das Durchbrechen eines oppressiven Schweigens, das Bezeugen von Geschehenem und das Bewahren von Hoffnung.
Wenn Zeug*innen von Gewalt und Ungerechtigkeit ungehört bleiben, wo wird das, was passiert, registriert, wo wird es aufgehoben? I could swear my face was touching stone, der Titel der diesjährigen Talks, kuratiert von Natascha Sadr Haghighian, Marc Siegel, Philip Widmann und Florian Wüst, ist dem Gedicht Land to Light On (1997) der kanadischen Schriftstellerin Dionne Brand entliehen. Brand hat sich in ihrer Poesie immer wieder mit der Frage des Bezeugens beschäftigt, mit der Lücke zwischen dem, was angetan, und dem, was davon berichtet wurde. Die vier hybriden Veranstaltungen, die Panels, Vorträge, Lesungen und Filme miteinander verknüpfen, widmen sich der transhistorischen Dimension affektiver Zeug*innenschaft sowie den körperlichen und sensorischen Formen des Wissens.
Zu den Kurator*innen:
Laura Huertas Millán ist eine kolumbianische und französische Filmemacherin und Künstlerin. Sie lebt in Belgien. In ihren Filmen verbindet sie Fiktion, Ökologie, kritische Ethnografie und diasporische Narrative, um Geschichten des Widerstands und des Überlebens sichtbar zu machen.
Natascha Sadr Haghighian arbeitet mit unterschiedlichen Medien und widmet sich epistemischem Ungehorsam und diasporischen Infrastrukturen. Darüberhinaus unterrichtet sie Skulptur und Installation an der HfK Bremen.
Inga Seidler ist eine in Berlin lebende freie Kuratorin und Projektmanagerin. Sie war Ausstellungskuratorin des transmediale Festivals und leitete das Web Residency Programm der Akademie Schloss Solitude. Seit 2021 kuratiert sie u.a. die Ausstellungen des EMAF.
Marc Siegel ist Filmwissenschaftler, Kurator und Mitglied des Berliner Kunstkollektivs CHEAP. Er ist Professor für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.
Philip Widmann forscht, kuratiert und macht Filme. Zurzeit arbeitet er als postdoctoral researcher im SNF-geförderten Projekt Paranational Cinema – Legacies and Practices an der Universität Zürich.
Florian Wüst arbeitet als Filmkurator, Künstler und Dozent in Berlin. Er kuratiert Filmprogramme für internationale Kunstinstitutionen, Kinos und Festivals, und ist Mitgründer der Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt.
Das 38. European Media Art Festival findet vom 23. bis zum 27. April 2025 statt. Die Ausstellung in der Kunsthalle Osnabrück wird bis zum 25. Mai 2025 zu sehen sein.